Die Fahrt ins Blaue oder kleine Fluchten ...

Herr L. kann aus verschiedenen Gründen nicht mehr selbst Auto fahren. Trotzdem steht, immer startklar, sein blaues Auto, eine Marke der Luxusklasse, vor der Tür der Senioreneinrichtung. Das Auto wird immer - ihm zu Liebe - so geparkt, dass er es vom Fenster aus jederzeit sehen kann!

Beinahe jeden Montag, wenn ich Herrn L. nachmittags besuche, ahne ich, was passieren wird! „Wir müssen das Auto bewegen!“, sagt er zur Begrüßung. Das heißt im Klartext: Herr L. hat Lust auf eine Autofahrt durch die Stadt!

Wenn ich ihn dann frage, wo es hingehen soll, ob er eine Idee oder ein Wunschziel hat, denkt er lange angestrengt nach. Ihm fällt einfach nichts ein. Um seine Qual zu verkürzen, sage ich dann: „Was hältst Du von einer Fahrt ins Blaue?“ Seine ebenso blauen Augen strahlen. „Gute Idee, das machen wir.“

Natürlich hatte ich zu Hause beim Blick auf den aktuellen Wetterbericht bereits geahnt, was kommen würde. Bei schönem Wetter muss das Auto bewegt werden, und bei nicht so schönem Wetter spielen wir Scrabble im Foyer. Daher habe ich mich zu Hause mit dem Stadtplan vorbereitet und alles, was so aussieht, wie eine Fahrt ins Blaue, ist in Wirklichkeit geplant.

Das Ziel und den besten Weg dorthin sowie den abwechslungsreichsten Weg wieder zurück, habe ich beim Start im Kopf. Zwischendurch baue ich absichtlich städtebauliche Highlights ein, plaudere mit ihm über den Fortgang des Schlossneubaus oder über die Krone auf dem Teltower Kirchturm und urplötzlich sage ich mit gespieltem Entsetzen: „Oh nein, jetzt habe ich mich verfahren!“. Das gehört zu unserem Nachmittagsvergnügen dazu und macht die Sache spannend.

Herr L. ist in diesen Situationen als alter Segler durchaus hilfreich. Während wir scheinbar verwirrt und ohne Orientierung durch den südlichen Speckgürtel der Hauptstadt schaukeln, prüft er gewissenhaft den Sonnenstand oder zieht den Kompass auf seinem Smartphone zu Rate. „Wir fahren jetzt nach Osten“, sagt er. „Was liegt östlich von Teltow“, frage ich. Er grübelt. „Ich glaube, hier war ich noch nie“, antwortet er, und ich spiele mit. „Nööö, ich auch nicht ...!“ „Aber dahinten ist eine Kirche zu sehen. Welches Dorf könnte das sein?“ Es dämmert langsam. Wir haben Winter und bereits gegen halb Fünf Uhr muss man ans Umkehren denken. Leichte Verzweiflung kommt auf. Vermutlich drückt die Blase, und Herr L. denkt an sein Fläschchen Bier zum Abendbrot.

„Aaah, jetzt weiß ich wieder, wo wir sind“, rufe ich überglücklich und biege im Kreisverkehr Richtung Berlin-Zehlendorf ab. Herr L. ist erleichtert und atmet hörbar auf.
Unterwegs fallen ihm an bestimmten Ecken und Plätzen alte Geschichten ein, die er mir schon einige Male an diesen Stellen erzählt hatte. Ich höre sie immer wieder gerne, denn jedes Mal gibt es neue Details, die aus der Erinnerung gekramt werden.

Herr L. muss früher einen „heißen“ Stil gefahren sein. Manchmal schallt es vom Beifahrersitz, dass ich schneller fahren soll, um die tiefrote Ampel zu schaffen, oder er liebt riskante Überholmanöver und ruft dann: „Jetzt, .... jetzt kannste...!“
Ich lasse mich jedoch nicht beirren und fahre (typisch Frau) eher vorsichtig und passiv, was nicht heißt, dass ich mich in der Geschwindigkeit nicht gerne dem hektischen Großstadtverkehr anpasse. Mein Beifahrer lobt jedoch gerne in Gegenwart anderer Bewohner der Senioreneinrichtung meinen guten und sicheren Fahrstil ..... Ich kichere dann in mich hinein und lasse ihn erzählen.

Auf dem Rückweg quälen wir uns durch den feierabendlichen Berufsverkehr. Es geht nur noch „stop and go“ voran, was jedoch von mir ebenso große Aufmerksamkeit verlangt wie draußen auf den brandenburgischen Landstraßen und in den Kreisverkehren. Langsam werde ich müde. Und nun folgt das Unvermeidliche. Herr L. schlägt vor, den Wagen durch die Waschanlage zu fahren. Oder ... sicherlich muss ganz dringend nachgetankt werden?

Selbstverständlich ist der Wagen blitzblank – sowohl außen – als auch innen und der Tank ist noch dreiviertel voll. Da es kurz vor 18 Uhr ist und ich gleich Feierabend habe, kann ich ihn überzeugen, die Wagenpflege auf den nächsten Montag zu verschieben.

Das Beste jedoch heben wir uns zum Schluss auf. Auch das ist inzwischen zum Ritual geworden. Er fragt, ob ich denn vorhin beim Losfahren den Kilometerzähler  auf Null gestellt habe? Natürlich habe ich. „Und ?“, fragt er mich, „wieviel sind wir gefahren?“ „Heute haben wir die 40 km Grenze geknackt“, sage ich ganz cool. Herr L. nickt stolz. Das ist das erste, was er gleich seinen Tischnachbarn strahlend beim Abendbrot erzählen wird: „Heute sind wir 40 km nach Kleinmachnow gefahren!“

Gastbeitrag von:

Dr. Uta Schnell
Kunsthistorikerin, Seniorenassistentin
Berlin (Bezirk Steglitz-Zehlendorf)

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