„Nun weiß ich – wie Angst riecht!“

Dieser Winter ist lang und grau. Die Temperaturen um Null Grad oder sogar Dauerfrost verleiten nicht dazu, die warme Seniorenresidenz zu verlassen. Leider kann man nicht an jedem Montag Scrabble spielen, so dass ich Herrn L. mit etwas List und Tücke dazu überreden konnte, mir aus seinem langen und erlebnisreichen Leben zu erzählen. Meist bekomme ich dann immer zu hören: „Ach, was soll ich schon erzählen? Ich habe eh alles vergessen und nichts Wichtiges erlebt!“ Es ist für die meisten Senioren schwer zu begreifen, dass gerade die kleinen Dinge des Alltages aus längst vergangener Zeit für uns so spannend und interessant sind. Natürlich hat Herr L. keine Weltpolitik bestritten, aber er hat ungewollt an ihr teilgenommen und eine Kindheit im 2. Weltkrieg im zerbombten Berlin oder in verschiedenen Kinderlandverschickungslagern in Polen und Bayern überlebt.

In seinem Zimmer steht ein alter PC mit großem Bildschirm, der sich hervorragend als „Schreibmaschine“ gebrauchen lässt. Wir setzen uns beide nebeneinander davor. Ich schreibe und Herr L. erzählt. Ich versuche zu ergründen in welchem Zusammenhang diese Erinnerung steht, frage nach, um bestimmte Stellen eindeutiger zu verstehen, und dann diktiert Herr L. druckreif. Für Wörter, Grammatik, Satzbau und Stil besitzt er einen ganz besonderen Sinn. Das hat sicherlich mit seiner großen Sprachbegabung zu tun. In Berlin war er Schüler des Französischen Gymnasiums und musste große Teile des Abiturs auf Französisch absolvieren. Außerdem lernte er Griechisch und Latein und sprach Englisch und Italienisch, was ihm beruflich sehr zu gute kam.

 

Um ihm die Sache zu vereinfachen, entwarf ich eine Gliederung, die chronologisch aufgebaut wurde. Egal in welcher Reihenfolge ihm Erinnerungen einfallen, ob sie nun aus der Kindheit oder aus dem Berufs- oder Familienleben stammen, per PC können wir ungehindert dorthin springen, wo diese kleine Geschichte im zeitlichen Ablauf hineinpasst und sie an dieser Stelle sofort aufschreiben. Je länger wir daran arbeiten, desto mehr setzten sich diese Flicken zu einem großen Teppich zusammen!

 

Wer nun glaubt, dass wir fröhlich plaudernd in Erinnerungen schwelgen und alles ganz schnell und leicht aufschreiben, der täuscht sich. Es ist verdammt anstrengend, sowohl für Herrn L. als auch für mich, seiner persönlichen Erinnerungsassistentin. Meist sinken wir nach 1,5 Stunden erschöpft in uns zusammen und beschließen aufzuhören. Kaum habe ich das Geschriebene abgespeichert und den PC ausgeschaltet, sprudelt die Erinnerungsquelle bei Herrn L. von neuem. Als ob ihm ohne Gerät der Druck genommen wird. Blitzschnell zücke ich Block und Kugelschreiber und mache mir Stichpunkte. Dort wollen wir dann beim nächsten Mal anknüpfen und bei angeschaltetem PC weitermachen.

 

Bereits bei unserer zweiten Sitzung kamen wir ordentlich in die Bredouille – wie der Berliner sagen würde. Kein Wunder: schließlich war er als Kind in 2 KLV (Kinderlandverschickungen) geschickt worden. Er überlebte eine abenteuerliche Flucht vor der russischen Armee aus dem heutigen Polen, mit Zwischenaufenthalt in Berlin, Bombenangriffen und Luftschutzbunkern, und eine zweite KLV nach Bayern, in die Arme der rettenden Amerikaner. „Jetzt weiß ich, wie Angst riecht“, sagte Herr L. zu einem Luftangriff auf Berlin-Mitte, Nähe Hackescher Markt, im Bunker. Das muss man auch als Zuhörerin erst einmal verdauen. 

 

Da sich alles kurz vor Kriegsende abspielte und Herr L. damals 10-12 Jahre alt war, purzeln die Ortsnamen durcheinander. Gleichzeitig fallen ihm sogar noch einige polnische Namen der damals deutschen Städte ein. Ich versuche Struktur in die Erinnerungen zu bringen, frage nach, bringe logische Einwände, um den richtigen Ablauf zu klären. Ratlos sehen wir uns an. Keiner weiß mehr weiter. Wir hatten uns in seinen Erinnerungen und im zeitlichen Ablauf mächtig verheddert.  Ich wollte schon aufgeben und diesen Teil seiner Biografie zur späteren Klärung hintenan stellen, als er plötzlich spitzbübisch lächelt. Nüchtern sagte er: „Dann müssen wir eben Googeln.“ Wie Recht er doch hatte! Alle Ortsnamen, die er ursprünglich in Bayern verortet hatte, entpuppen sich als Orte in der heutigen Woiwodschaft Lebus. Sie liegen etwa 50 km von der Oder entfernt, südlich von Schwiebus, im heutigen Polen. Die nächst, größere Stadt ist Posen (heute Poznan). Alle Orte, aus denen Herr L. als Kind vor der Sowjetarmee geflohen war, wurden Anfang 1945 erheblich zerstört. Eine Luftbildaufnahme vom bayerischen Sulzbürg im Internet half seinen Erinnerungen auf die Sprünge. Im Ort standen zwei Kirchen auf einem Berg, dicht nebeneinander, die katholische neben der evangelischen Kirche, auf deren Turm sie geklettert waren. Und von oben sahen sie zu, wie sich das Örtchen unter ihnen geräuschlos den Amerikaner ergab. Das war eine wahrhaftige filmreife Szene– erlebt als kleiner Junge ohne Mutter und Vater. 

 

Plötzlich hatten wir einen logischen, zeitlichen Ablauf seiner Erinnerungen im Kopf und auch im PC. Was für ein Gefühl. Herr L. blickte stolz auf seine Armbanduhr. „Heute haben wir ganz schön was geschafft!“ murmelte er. „Wir machen das nächste Mal weiter!“.

Gastbeitrag von:

Dr. Uta Schnell
Kunsthistorikerin, Seniorenassistentin
Berlin (Bezirk Steglitz-Zehlendorf)

www.seniorenassistenz-schnell.de