El siglo de Oro – das goldene Zeitalter

Im letzten Jahr ging ich mit einer kleinen Gruppe Seniorinnen regelmäßig, am letzten Sonntag des Monats, in eines der vielen Berliner Museen. Per Taxi wurden Sie von mir von einem Wilmersdorfer Stift abgeholt, wo sie im betreuten Wohnen recht aktiv ihren Lebensabend verbringen. Diesmal brachten uns zwei Großraumtaxen zur Gemäldegalerie am Kulturforum, wo ich von meiner Freundin und Kooperationspartnerin, Ulrike Fiedler, erwartet wurde. Sie hatte sich an diesem Sonntag bereit erklärt, mir als ehrenamtliche Assistentin behilflich zu sein, denn wir hatten Besonderes vor. Diesmal sollten meine Senioren von der Stimme des Schauspielers Daniel Brühl per Audioguide durch die Ausstellung der spanischen Barockmalerei  „El siglo de Oro“ geführt werden.

Zum ersten Mal war ein Ehepaar N. dabei, das im Stift zu den neueren Bewohnern zählt. Sie stützte sich auf einen Rollator und er, sportlich gekleidet in Golf Hose und Polohemd, machte auf mich einen äußerst fitten Eindruck. Ich saß im Taxi neben ihm und schnell entwickelte sich ein Gespräch über gemeinsame Erinnerungen, da er wie ich aus Zehlendorf stammte und dort ein großes Garten-Center führte, wo wir früher immer für unsere Balkonbepflanzung einkauften.

Nachdem ich im Foyer der Gemäldegalerie mit Ulrikes Hilfe Eintrittskarten gekauft und die Garderobe weggebracht hatte, was überall ein bisschen mit Schlange stehen verbunden war, organisierte ich die Audioguides. Im Vorfeld hatte ich geklärt, dass meine Damen mit dieser alternativen Form der Wissensvermittlung einverstanden waren. Nach einer Einführung von mir in die Ausstellung und in die Technik des Gerätes, teilten wir die Gruppe in zwei Hälften und Ulrike und ich hatten nun jeweils 5 Personen, denen wir unterwegs in den Ausstellungsräumen und mit der Technik behilflich waren.

In meiner Gruppe befand sich das Ehepaar N. Sie flitzte mit dem Rollator vorneweg und ward bald nicht mehr gesehen. Die anderen beherrschten die Technik recht schnell, obwohl es anfangs schwierig war zu vermitteln, dass ein Touchscreen auf starken „Tastendruck“ nicht reagiert. Und Herr N. lies sich bald im durchnummerierten Rundgang stark zurückfallen und verlies den ersten Raum ab sofort nicht mehr. Bald hatte ich den Rest der Gruppe komplett aus den Augen verloren und sorgte mich über das äußerst langsame Tempo des Seniors. Von Ulrike kam die Meldung: Alles klar vorne, sie haben es begriffen, die Gruppe läuft routiniert und aufmerksam per Audioguide und mit Daniel Brühl im Ohr von Nummer zu Nummer.

Langsam war meine Geduld mit Herrn N. doch am Ende, und ich sprach ihn höflich an, ob ich ihm mit dem Gerät behilflich sein könne, denn die anderen wären schon fast am Ausgang. Er lehnte jede Hilfe ab, versicherte, dass alles o.k. sei. Nach weiteren 10 Minuten, in denen er sich nicht aus dem ersten Raum heraus bewegte, sprach ich ihn ein zweites Mal Hilfe anbietend an. Erst jetzt bemerkte ich, dass er vor einem falschen Bild stand und sich, mit ernster, gespielt konzentrierter, Miene einen falschen Text zum falschen Bild anhörte. Ich war verblüfft. Was tut man in so einem Fall als gewissenhafte Museumsführerin?

Da er sich nicht helfen lassen wollte, beschloss ich, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat, sich einen Text anzuhören und dabei vor einem Bild zu stehen, das zum Text nicht passt. Ich ging also wieder an die Spitze der Gruppe, um sie gemeinsam zum verabredeten Treffpunkt zu bringen und bat Ulrike, ein weiteres Mal nach Herrn N. zu sehen. Aufgeregt kam sie zurück. Herr N. war verschwunden.  Sie übernahm erneut die Gruppe, die nun bis auf einen Herrn vollzählig war, und sammelte die Audioguides ein, die ihr mit strahlenden Augen stolz übergeben wurden. Unser Event war ein voller Erfolg. Aufgeregt rekapitulierten die Seniorinnen die eben gehörten und gesehenen Eindrücke.

Ich war verzweifelt. Wie sollte ich in diesen vielen Räumen den verlorengegangenen Herrn wieder finden? Seine Frau hatte inzwischen kleinlaut zugegeben, dass ihr Mann neuerdings an Orientierungsstörrungen leiden würde. Nachdem ich einmal durch alle Sonderausstellungsräume gelaufen war, lief ich durch die restlichen Hallen der Berliner Gemäldegalerie. Dort jemanden wiederzufinden ist fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Zweimal lief ich von der italienischen Frührenaissance zum Französischen Rokoko und wieder zurück. Ich hatte kaum Zeit in die vielen kleine Kabinetträumchen zu sehen. Dazu kam, dass das Museum an diesem Sonntag recht gut besucht war. Verzweifelt fing ich an, Aufsichtskräfte zu fragen, ihnen eine detaillierte Personenbeschreibung von Herrn N. mit der großkarierten Golf Hose und dem knallroten Polohemd zu geben. Alle schüttelten den Kopf oder gaben mir den guten Rat, ihn auf dem Handy anzurufen. Das war das Stichwort. Statt ihn anzurufen, hatte ich doch weder seine Handynummer, noch wusste ich, ob er überhaupt eins dabei hatte, bat ich die Aufsicht, ihn auszurufen. Diese Bitte wurde leider konsequent abgelehnt. „Der taucht schon wieder auf“ – wurde mir gesagt. „Wenn sie wüssten, wie oft wir am Tag gebeten werden, auszurufen? Dann hätten wir hier den Berliner Hauptbahnhof und nicht die Gemäldegalerie.“

Nun beschloss ich die Herrentoiletten abzusuchen und bat Ulrike, die Gruppe Richtung Taxi-Treffpunkt zu führen. Wie gut, dass Sie als Assistentin dabei war! Auf dem Kulturforum herrschte Chaos. Alles war abgesperrt. Eine große Bühne, auf der am Abend zuvor Sir Simon Rattle ein Konzert gegeben hatte sowie Scheinwerfer und Lautsprecherboxen, wurden abgebaut.  Zufällig schweifte mein Blick in die vorderste Ecke des Foyers, wo es ruhig und still war. Die Sonne schien herein. Ich erblickte ein zugedecktes Klavier, Stapelstühle und Herrn N., der mit Kopfhörern auf den Ohren vor einer leeren Vitrine stand, in die er mit ernster, gespielt konzentrierter, Miene hineinstarrte.

Nachtrag: An weiteren Führungen nahm das Ehepaar N. nicht mehr teil.

Gastbeitrag von:

 

Dr. Uta Schnell
Kunsthistorikerin, Seniorenassistentin
Berlin (Bezirk Steglitz-Zehlendorf)

www.seniorenassistenz-schnell.de