Im Bett durch die Karibik

Herr H. muss heute das Bett hüten. So hat es ihm sein Arzt verordnet. Schon seit längerer Zeit leidet Herr H. an einem Dekubitus, das Sitzen im Rollstuhl ist bisweilen sehr schmerzhaft für ihn. Darum also die Bettruhe. Trotzdem besuche ich ihn. Nein, es muss heißen: Gerade deshalb besuche ich ihn.

Als ich sein Zimmer im Wohnheim betrete, blinzelt es fröhlich aus seinen Augen. Obwohl er sich mit der Situation arrangiert hat, ist der Besuch eine willkommene Abwechslung zum öden Blick an die Zimmerdecke. Wir klönen zunächst über sein Befinden und das schreckliche Wetter draußen. Ein Spaziergang wäre heute ohnehin nicht in Frage gekommen.

Zwei Bücher habe ich im Rucksack mitgebracht. „Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen etwas vorlese?“ frage ich. „Oh ja, das ist eine gute Idee. Drüben im Schrank steht ein dickes blaues Buch“, antwortet er. Es ist von Burghard Pieske und trägt den Titel „Karibisches Eis, arktisches Feuer“. Dieser Wunsch hat natürlich Vorrang.

Herr H. war früher selbst begeisterter Segler. Die lebendigen Erzählungen einer abenteuerlichen Seereise von Südamerika durch die Karibik bis hinauf nach Grönland versetzen uns beide für zwei Stunden in eine völlig andere Welt.

Nach dem ersten Kapitel des heutigen Tages mache ich eine Pause und frage Herrn H. nach seinen eigenen Erinnerungen. Es sprudelt nur so aus ihm heraus, obwohl er durch seine fortschreitende Parkinson-Erkrankung eigentlich ein sehr stiller und eher verschlossener Mensch geworden ist. Durch die Lektüre finden sich Gesprächsaufhänger ohne Ende, die in ihm viele schöne und kostbare Erinnerungen wecken. Soll ich noch weiterlesen? „Auf jeden Fall!“ ruft er.

Am Ende werden es drei Buchkapitel und noch mehr eigene Geschichten und persönliche Erinnerungen sein, die Herrn H. ein anhaltendes Strahlen in sein Gesicht zaubern. Und das an diesem trüben Tag! Wer hätte das gedacht? Selbst Kaffee und Kuchen, die ein Pfleger zwischendurch ins Zimmer gebracht hatte, üben nicht den geringsten Reiz auf ihn aus: „Essen Sie das doch bitte“, fordert er mich auf, „ich habe überhaupt keine Lust darauf!“

Als ich mich nach zwei Stunden wieder von ihm verabschiede, stellen wir gemeinsam fest, dass die Zeit wie im (Segel-)Fluge vergangen ist. Er bedankt sich geradezu überschwänglich für meinen Besuch, obwohl Herr H. für die gelungene Gestaltung des Nachmittags selbst gesorgt hatte. Schon jetzt freue ich mich auf die nächste Gelegenheit, ihm aus dem Buch vorzulesen und auf Segeltour zu gehen.