Tod und Rausch in der Senioreneinrichtung

Mein Senior, Herr L.,  ist kürzlich gestorben. Ich habe ihn jahrelang - immer montags - besucht. Wir machten gemeinsam mit seinem Mercedes wunderbare Ausflüge in die Mark Brandenburg und Spritztouren durch alle Stadtteile Berlins. Er ist über 90 Jahre alt geworden und lag im letzten Jahr dement im Bett einer Pflegeeinrichtung in Westend, musste gewindelt werden, erkannte mich nicht mehr und schlief viel, stellte langsam die Nahrungsaufnahme ein.

 

Herr L. hatte das große Glück, nicht nur geschultes Pflegepersonal, sondern auch eine sehr umsichtige Tochter zu besitzen, die alles im Vorfeld und in seinem Sinne, mit ihm zusammen festlegte.

 

Es gab eine schriftliche Regelung für das Begräbnis, eine Vorsorgevollmacht und eine  Patientenverfügung, die ihn in Ruhe und mit Würden sterben ließen. Für die Tochter, selbst im medizinischen Bereich arbeitend, war es verständlich, dass man ihren Vater nicht „verdursten“ ließ, wenn er nicht mehr trinken wollte, sondern dass dies zum Sterbevorgang dazugehört. Ebenso sollte das Wundliegen zugelassen werden, wenn der Sterbende in den letzten Tagen nicht mehr umgelagert werden wollte. Stattdessen kann man mit Befeuchten des Mundes, Aromatherapie und Massageölen für Hände, Arme und Füßen oder auch leiser Musik etwas Wohlbefinden und Erleichterung  verschaffen.

 

Es gibt aber auch Sterbende, die vollständig in Ruhe gelassen werden wollen. Meine Mutter z.B. war bis zum Schluss - trotz des vielen Morphiums, das sie aus Palliativgründen im Hospiz bekam, vollständig klar, und bat mich, Besucher, auch engste Angehörige, wie z.B. ihren Zwillingsbruder fernzuhalten. Sie sagte mir: „Ich bleibe autark bis zum Schluss.“ Sie schlief dann friedlich am frühen Morgen, in aller Stille ein - ohne Begleitung ihrer Kinder, worum sie uns gebeten hatte. Am Abend zuvor hatten wir uns von einander verabschiedet. 

Ein paar Tage vorher hatte sie um den Besuch eines Pastors gebeten, der mit ihr zusammen das „Vaterunser“ betete, was sie mir mit leuchtenden Augen erzählte. Als Mitglied in der evangelischen Kirche hatte man ihr den Pfarrer von der Baptistengemeinde nebenan geschickt, was sie als sehr spannend empfand. Sie war neugierig und interessiert bis zu ihrem Tod.

 

Seit über 2 Jahren besuche ich nun Frau U. in einer Senioreneinrichtung in Friedenau. Ich bekenne mich offen und frei: Ich bin ihre Drogendealerin. Das mag jetzt erschütternd klingen, aber Frau U. raucht pro Monat mindestens eine Stange Pall Mall ohne Filter, die inzwischen schwer zu besorgen sind, da diese Zigaretten wohl nur noch von den Jahrgängen 1934-1940 geraucht werden. Es gibt in der Senioreneinrichtung einen Raucherkeller, der unbeheizt ist. So stelle ich mir die Vorhölle vor. Im Winter wird wegen der fehlenden Heizung nicht gelüftet und die Aschenbecher müssen die Raucher*innen selber leeren, was wohl kaum jemand tut und Frau U. schlurft mit ihrem Rollator mehrmals am Tag den langen Flur entlang zum Fahrstuhl, um hinunterzufahren. Die Physiotherapeutin nimmt das pragmatisch, denn auf diese Art und Weise bliebe Frau U. in Bewegung - sagt sie.

 

Zu den Zigaretten konsumiert Frau U. wöchentlich eine Flasche Osborn Veterano (spanischen Cognac). Wenn sie könnte, würde sie auch zwei Flaschen pro Woche trinken, was ich aber streng reglementiert habe. Meine Vorträge zum Thema „Alkoholismus im Alter“ hat sie nur lachend vom Tisch gewischt. Sie sei schließlich nicht dement, könne als freie Bürgerin selbst entscheiden, wofür sie ihr Geld ausgäbe. Außerdem würde sie nicht heimlich trinken. Alle im „Heim“ wüssten Bescheid, auch die Pflegekräfte. Die Flasche steht immer offen auf dem Tisch und die leeren Flaschen liegen im Papierkorb. Sie nimmt „keine“ starken Medikamente („nur“ täglich zweimal die „blöden“ Schmerztropfen) … Jedoch für das Argument, dass ich für sie verantwortlich sei und eventuell haftbar gemacht werden könnte, wenn man nach einem Sturz ihrerseits im Vollrausch recherchieren würde, wer ihr den eigentlich immer den Alkohol mitbringt, zeigte sie nach erregter Diskussion endlich Einsicht und Verständnis. Jetzt warte ich darauf, dass sie mich nach einem Tütchen Cannabis fragt….!

 

Uta Schnell (26.1.24)