Demenz: Es begann „sukzessive“

Ich machte vor längerer Zeit Bekanntschaft mit einem Ehepaar, deren Mann sich aufopfernd um seine an Demenz leidende Frau kümmert und zeitweise Entlastung benötigt. Bei einem ausführlichen Vorgespräch hatte ich erfahren, dass seine Frau immer sehr kulturell interessiert war. Sie liebt u. a. klassische Musik, hatte früher Gedichte geschrieben bzw. Verse zu kleinen Gedichtbänden zusammengestellt. Doch das alles sei inzwischen nicht mehr möglich.

Für die erste Begegnung mit der Frau hatte ich mich entsprechend inhaltlich vorbereitet, denn ich sollte „um Himmels Willen“ nur keine naiven Spielchen mit ihr versuchen. Und tatsächlich: die Frau machte nicht nur einen würdevoll-charmanten, sondern auch sehr präsenten Eindruck auf mich. So führten wir von Beginn an auch kein oberflächliches „Gespräch“, sondern eine anspruchsvolle „Konversation“, die mit vielen kulturellen Bezügen und Erinnerungen sowie vor allem durch Sprachreichtum gespickt war. Es gefiel ihr außerordentlich, wenngleich sie sich zwischendurch immer mal wieder besinnen oder nach Formulierungen suchen musste. 

 

In diesem Zusammenhang sprach ich davon, dass ich mich über die vielen gemeinsamen Vorlieben und Gesprächsthemen sehr freue und wir „sukzessive“ bestimmt noch viel mehr herausfinden werden. „Sukzessive“, wiederholt sie, „das ist auch wieder so ein Wort! Das kennt oder benutzt doch heute kaum noch jemand!“ Doch genau dieses sprachliche Feingefühl hatte uns offenbar von Anfang an verbunden und großen Ansporn bei ihr freigesetzt.

 

Als ich bei einem der nächsten Besuche das Buch „Das schönste deutsche Wort“ mitbrachte, konnten wir in klangvollen Begriffen schwelgen und von „Geistesblitz“ bis „Pusteblume“, von „Muckefuck“ bis „Plaudertasche“, von „Turteltäubchen“ bis „Kinkerlitzchen“ unseren Assoziationen freien Lauf lassen. Ein gelungene Mischung aus Lese-, Sprech- und Gedankenübung, die wir noch mehrfach wiederholten. Keine „naiven Spielchen“, sondern eine vergnüglich anspruchsvolle Gedächtnisarbeit, die außerordentlich aufbauend, geistig aktivierend und vor allem angemessen für die Frau war.

 

Dieser überlegte und willkommene Umgang mit Sprache hatte noch weitere Aktivitäten zur Folge. So verblüffte mich die Dame u. a. immer wieder, wenn sie aus zusammengesetzten Substantiven mit dem zweiten Teil des Wortes flink neue Worte bildete: Federball – Ballspiel – Spielplatz – Platzhirsch....

Wer ihr in diesem Moment zugesehen hat, mag nicht glauben, dass diese Frau an Demenz leidet.